Flucht übers Mittelmeer

Jahr für Jahr versuchen Tausende, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Die Überquerung des Mittelmeers - Europas Aussengrenze - gilt als die tödlichste Seefluchtroute weltweit. Die Flüchtenden werden von Schlepper*innen in oftmals völlig seeuntauglichen Schlauchbooten aufs Mittelmeer geschickt und sich selbst überlassen. Staatliche Schutzorganisationen wurden in den letzten Jahren abgeschafft, private Seenotrettung wurde behindert und teilweise sogar kriminalisiert.

Mindestens 40’000 Migrant*innen haben in den letzten sieben Jahren ihr Leben auf dem Mittelmeer verloren, die Dunkelziffer ist wohl deutlich höher. Jährlich versuchen Hunderttausende, das Mittelmeer zu überqueren, in der Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben. Zwar nimmt die Anzahl der Leute, die versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, seit Jahren ab, jedoch lassen relativ gesehen immer mehr Menschen beim Versuch der Überquerung ihr Leben. Die europäische Gemeinschaft kümmert diese Tatsache wenig: Es sind private Organisationen, die in Eigenregie Verantwortung für Seenotrettung übernehmen müssen, während europäische Schiffe Boote mit Flüchtenden an der Weiterfahrt hindern oder gar in Seenot bringen.

Libyen: Kein sicheres Land für Flüchtende

Die Menschen, die sich von Libyen aus auf den Weg übers Mittelmeer begeben, haben meist schon eine lange, schwierige Reise hinter sich: Der grösste Teil von ihnen kommt aus Subsahara-Afrika oder dem Nahen Osten. Wer in ein Boot steigt, um das Mittelmeer zu überqueren, muss sein*ihr Leben oftmals Schlepper*innenbanden anvertrauen, da es keine legalen Fluchtwege nach Europa mehr gibt. Diese Banden nutzen die Notlage der Flüchtenden schamlos aus und knöpfen den ihnen oftmals ihr ganzes Geld ab. Denn in Libyen bleiben will keine*r: Im nordafrikanischen Land herrscht seit 2014 ein Bürgerkrieg, im Zuge dessen die Infrastrukturen des Landes zerstört wurden. Zudem werden Flüchtende in Lagern unter oftmals unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Die dortigen hygienischen Zustände sind katastrophal, die Platzverhältnisse beengt und die Lebensmittelrationen knapp - und durch Corona hat sich die Situation noch wesentlich verschlimmert. Doch damit nicht genug: Menschen in den Lagern müssen Zwangsarbeit verrichten und sind extremer Gewalt ausgesetzt. Dazu gehören Folter, Misshandlung, Vergewaltigung oder Mord. Gemäss Berichten von “Zeit Online“ ist der einzige Weg, aus den Gefängnissen zu kommen, sich Menschenschmuggler*innen anzuvertrauen. Die Flüchtenden werden von diesen dann zum Meer gebracht, wo man sie in Boote setzt und ihrem Schicksal überlässt.

Doch von den Menschen, die sich aus Libyen auf den Weg nach Europa machen, erreichen nur die Wenigsten je europäischen Boden. Ein Grossteil der Boote wird schon frühzeitig von dem, was sich “libysche Küstenwache” nennt, aufgehalten und zur Umkehr gezwungen. Die sogenannte “Küstenwache” ist allerdings nichts anderes als ein Zusammenschluss von libyschen Warlords, die sich zusammengetan haben, um Flüchtende zu stoppen und so Geld von Europa zu kassieren. Diese Strategie funktioniert aus Sicht der “Küstenwächter*innen”: Im Rahmen des “Integrated Border Management Program” hat die EU bis heute über 90 Millionen Euro an die libysche “Küstenwache” gezahlt. Für die Flüchtenden auf den Booten bedeutet dieses Programm nichts anderes, als dass die EU Geld zahlt, damit sie eingesammelt und zurück in die libyschen Hölle verfrachtet werden.

Auf private Retter*innen angewiesen

Auf die Boote, die nicht von der libyschen “Küstenwache” aufgehalten werden, warten die Tücken der Hochseeschifffahrt. Die Boote, in den meisten Fällen einfache Gummiboote, sind überhaupt nicht für die Überquerung eines Meeres konstruiert und mit viel zu vielen Menschen beladen. Den Schlepper*innen ist diese Tatsache egal; ihr Geschäft ist ab dem Moment, in dem das Boot in See sticht, abgeschlossen. Dementsprechend gross ist der Anteil der Boote, die in Seenot geraten und gerettet werden müssen. Doch wer glaubt, dass die EU, immerhin Friedensnobelpreisträgerin, Menschen in Seenot zu retten gedenkt, liegt falsch; fast alle staatlichen Seenotrettungsprogramme wurden in den letzten Jahren aufgegeben - aber nicht etwa, weil vonseiten der EU zu wenig Geld für das Mittelmeer vorhanden wäre: Während im Verlauf der letzten Jahre die staatliche Seenotrettung immer stärker zusammengespart wurde, wurde das Budget für die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX im gleichen Zeitraum um ein Vielfaches erhöht. Besonders im Bereich von Überwachungsdrohnen wurden extreme Investitionen getätigt. Das heisst, dass das Grenzgebiet Mittelmeer immer besser überwacht wird - und gleichzeitig relativ gesehen immer mehr Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers sterben gelassen werden.

Während europäische Grenzschutzdrohnen in immer grösserer Zahl hoch über dem Mittelmeer schwirren, versuchen private Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs, non-governmental organizations) auf dem Wasser verzweifelt, die Lücken in der Seenotrettung zumindest ansatzweise zu schliessen. Für die Boote in Seenot sind NGOs oftmals die einzige Hoffnung auf Rettung. So kommt es beispielsweise immer wieder vor, dass Suchflugzeuge von Seawatch oder anderen zivilen Seenotrettungsorganisationen Boote in Not sichten und europäische Behörden wie die maltesische Küstenwache informieren - diese jedoch einfach nichts zur Rettung des Boots unternehmen. Das Kalkül, das dahinter steckt, ist ebenso kaltherzig wie menschenverachtend: Wenn beispielsweise klar ist, dass Boote aufgrund der Strömung oder des Winds zurück in libysches Hoheitsgewässer getrieben werden, wird einfach abgewartet und davon ausgegangen, dass die libysche “Küstenwache” sich um die Menschen kümmert. Die Folgen dieser Politik sind gravierend: Entweder, die Menschen geraten in die Fänge der sogenannten libyschen “Küstenwache”, oder das Boot kentert vorher und die Menschen auf dem Boot ertrinken. In beiden Fällen stehen das Leben sowie die Integrität der Menschen auf dem Spiel.

Diese Strategie des vorsätzlichen Ignorierens von Menschen in Seenot und damit indirekt der Übergabe von Flüchtenden an die libysche “Küstenwache” ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern verstösst auch gegen geltendes Recht. Denn die europäischen Behörden sind verpflichtet, internationale Rettungsaktionen so zu koordinieren, dass die Menschen in Seenot in den nächsten “sicheren Hafen” gebracht werden. Unter einem “sicheren Hafen” versteht man einen Hafen in einem Land, in welchem den Insass*innen des geretteten Schiffs keine Verfolgung oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen. Es ist offensichtlich, dass in Libyen mit seinen unmenschlichen Lagern keine sicheren Häfen existieren, folglich ist es rechtswidrig, zuzulassen, dass Flüchtende in Seenot von libyschen Schiffen “gerettet” werden.

Kriminalisiert, weil sie Leben retten

In den letzten Jahren hat sich die Situation auf dem Mittelmeer jedoch nicht nur für die Flüchtenden, sondern auch für ihre Retter*innen dramatisch zugespitzt. Im Juni 2019 bekam das Elend auf dem Mittelmeer für kurze Zeit internationale Aufmerksamkeit, als die damalige Kapitänin der Sea-Watch 3, Carola Rackete, ihr Schiff mit 40 Geflüchteten in den Hafen der italienischen Insel Lampedusa manövrierte und sich damit den Aufforderungen der italienischen Behörden widersetzte. Sie tat dies, weil sich die italienischen Behörden davor wochenlang geweigert hatten, die “Sea-Watch 3” und mit ihr die Geflüchteten in einen italienischen Hafen einfahren zu lassen und die Situation an Bord untragbar geworden war. Sie habe Angst gehabt, dass Menschen aus Verzweiflung über Bord springen und sich das Leben nehmen würden, so Rackete später.

Das Drama, das sich um die Sea-Watch 3 abgespielt hat, ist symbolisch für die beunruhigenden Entwicklungen, die die europäische Seenotrettung in jüngerer Zeit durchgemacht hat. Carola Rackete ist nur eine von vielen, die sich wegen der Rettung von Menschen vor Gericht verantworten mussten und müssen. Die Kriminalisierung der Seenotrettung hat ein Gesicht; das des rechtspopulistischen Italieners Matteo Salvini, des ehemaligen Innenminister Italiens. Während seiner Amtszeit hat er alles unternommen, um das Retten von Menschen zum Vergehen zu machen, gegen das rechtlich vorgegangen werden kann. Beispielsweise erliess er ein Gesetz, welches das unerlaubte Befahren von italienischen Hoheitsgewässern mit bis zu einer Million Euro Bussgeld bestrafen liess und hetzte massiv gegen die Richterin, die Rackete freigesprochen hatte.

Seit Salvini im September 2019 den Posten des italienischen Innenministers räumen musste, hat die Kriminalisierung der Seenotrettung zwar ihre Leitfigur verloren. Doch auch nach Salvinis politischem Ableben werden der privaten Seenotrettung wo nur möglich Steine in den Weg gelegt. So berichtete etwa Sea-Watch Anfang August 2020, dass derzeit kein Rettungsschiff mehr unterwegs sei, weil alle Rettungsschiffe wegen angeblicher Sicherheitsmängel in italienischen Häfen festgesetzt seien. Zu diesen vermeintlichen Sicherheitsmängeln zähle beispielsweise, dass Mülltonnen fehlerhaft beschriftet seien. Ziel dieser Politik, bei der Rettungsschiffe wo nur möglich an der Arbeit gehindert werden, ist, dass weniger Menschen in Europa landen. Europa sieht also primär jeden ertrunkenen oder in ein libysches Lager gesteckten Mensch als eine Person weniger, die in Europa Asyl beantragen möchte.

Höhere Gefahr ist nicht gleich weniger Menschen auf dem Meer

Diese unmenschliche Politik der Weigerung, Menschenleben zu retten, wird zum Teil damit legitimiert, dass angeblich mehr Menschen über das Mittelmeer flüchten würden, wenn sie mit Rettung rechnen könnten. Folglich sei es legitim, die Rettungsmöglichkeiten einzuschränken, da sich so weniger Menschen auf den Weg übers Mittelmeer machen würden. Eine Studie aus Oxford belegt allerdings ganz deutlich, dass diese Kausalität fehlerhaft ist; gemäss dieser Studie gibt es keinen Zusammenhang zwischen verstärkter Rettung und verstärkter Flucht. Dies, da es den Schlepper*innen eigentlich egal ist, ob die Flüchtenden ertrinken oder nicht; oftmals werden die Flüchtenden von ihnen auf die Boote gezwungen. Einen Zusammenhang nennt die Studie jedoch: Je weniger Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer unterwegs sind, desto mehr Menschen verlieren bei dessen Überquerung ihr Leben.

Europas Verantwortung für das Sterben

Dass Europa über Leichen geht, um sich nicht um die Flüchtenden auf dem Mittelmeer kümmern zu müssen, sollte nach den vorangegangenen Absätzen eigentlich klar sein. Was allerdings noch nicht erwähnt wurde, ist, dass sich Europa mit seinem mörderischen Verhalten aus seiner historischen sowie geopolitischen Verantwortung zieht: Im Laufe jahrhundertelanger wirtschaftlicher Ausbeutung des afrikanischen Kontinents im Rahmen des Kolonialismus schuf Europa Volkswirtschaften, die die Interessen der lokalen Bevölkerungen ignorierten und in voller Abhängigkeit von ihren Kolonialherr*innen einzig und allein der Mehrung des Europäischen Wohlstandes dienten. Wer meint, an dieser Tatsache hätte sich durch die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten etwas geändert, liegt drastisch daneben; die Ausbeutung des Kontinents findet neu im Rahmen der freien Marktwirtschaft in ähnlichen Dimensionen weiter statt (Mehr Informationen dazu sind im Text über Landraub zu finden). Die westliche Welt ist also, indem sie durch die Abschöpfung grosser Teile der Profite afrikanischer Volkswirtschaften jeglichen wirtschaftlichen Aufschwung in Afrika verhindert, direkt am wirtschaftlichen Elend verantwortlich, vor dem ein Grossteil der Menschen auf der Mittelmeerroute flüchtet. Doch damit nicht genug, denn selbst an den Bürgerkriegen, die Hunderttausende über das Mittelmeer nach Zentraleuropa treiben, trägt Europa Mitschuld: Zwischen 2014 und 2018 exportierte Europa ungefähr einen Drittel aller Waffen weltweit - Waffen die immer wieder in den Händen verschiedenster Bürgerkriegsparteien gefunden werden. Überdies hat die Europäische Gemeinschaft mit ihrer Unterstützung der US-amerikanischen Interventionspolitik grosse Teile zur Destabilisierung des Mittleren Ostens beigetragen, was wiederum zu Elend, Gewalt und Krieg in der Region führte. Doch anstatt Verantwortung für all das Elend “made in Europe” zu übernehmen und Flüchtende in Europa aufzunehmen, verschliesst ein ganzer Kontinent seine Augen, mauert sich ein und lässt Zehntausende wissentlich und willentlich ertrinken.

Es braucht legale Fluchtwege

Das Sterben auf dem Mittelmeer muss ein Ende finden. Es kann nicht sein, dass Jahr für Jahr hunderte bis tausende Menschen ihr Leben verlieren, weil Europa eine Politik verfolgt, bei der das Sterbenlassen von Menschen als legitime Abschreckmethode gilt. Es braucht eine Abkehr von der europäischen und schweizerischen Migrationspolitik in vier Schritten: Erstens muss die Seenotrettung verbessert werden; der privaten dürfen nicht länger Steine in den Weg gelegt werden, gleichzeitig braucht es wieder vermehrt staatliche Seenotrettung zur Entlastung der NGOs. Die Verantwortung für die Menschen in Seenot darf nicht bei einigen wenigen privaten Organisationen liegen, sondern muss staatenübergreifend geregelt werden. Zweitens müssen legale Fluchtwege geschaffen werden. Denn solange es keine legale, sichere Möglichkeit gibt, vom afrikanischen Kontinent aus nach Europa zu gelangen, werden Menschen ihr Leben dubiosen Schlepper*innen anvertrauen müssen; es muss eine legale Alternative zum organisierten Verbrechen geben. Drittens ist eine gerechtere Verteilung der Verantwortung für die Geflüchteten notwendig. Während Länder wie Italien unter der Last der Verantwortung ächzen, tun andere europäische Länder, auch die Schweiz, viel zu wenig, um Geflüchtete aufzunehmen - obwohl beispielsweise die Schweiz Kapazitäten für mehr Geflüchtete hätte. Damit einher geht die Kündigung des Dubliner Abkommens. Dieses Abkommen, welches die Verantwortung für Flüchtende sehr ungleich auf einige wenige Länder verteilt, muss ersetzt werden durch eine fairere Verteilung der Verantwortung innerhalb Europas. Viertens müssen die Fluchtursachen beseitigt werden. Denn wer flieht, tut dies nicht freiwillig. Der humanitärste, menschenfreundlichste Weg, damit Menschen nicht mehr fliehen, ist derjenige, bei dem dafür gesorgt wird, dass Menschen nicht mehr gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Solange dieser Punkt nicht vollständig erfüllt ist, sind die drei vorangehenden Punkte nur Symptombekämpfung.

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