Festlandflucht

Ob staubtrockene Wüsten, reissende Flüsse oder dichter Urwald: Der Ozean ist nicht das einzige natürliche Hindernis, welches für Menschen auf der Flucht eine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben darstellt. Das Terrain, welches Flüchtende auf ihrem Weg über Festland durchqueren müssen, ist unwirtlich und voller Tücken. Eine weitaus schwerwiegendere Gefahr stellt für die Flüchtenden allerdings das organisierte Verbrechen dar. Zudem betreiben viele Staaten einen immensen Aufwand, um Menschen an der Flucht in oder durch ihr Land zu hindern, beispielsweise durch absolut unmenschliche Grenzregimes.

Im Herbst 2018 sorgte der Begriff “Migranten-Karawane” international für Schlagzeilen. Damit werden jene Flüchtende bezeichnet, die sich in Gruppen aus den mittelamerikanischen Ländern Guatemala, Honduras und El Salvador, dem sogenannten Triángulo Norte, auf den Weg nach Norden gemacht haben. Die meisten von ihnen träumen davon, in den Vereinigten Staaten ein neues Leben anzufangen. Die Regierung Trump setzte und setzt bis heute alles daran, gegen Migrant*innen aus dem Süden zu hetzen und sie als kriminellen Strom von Schattengestalten, welche die Sicherheit der Vereinigten Staaten gefährden, darzustellen. Zugute kommt Trump dabei, dass der Begriff “Karawane” die Vorstellung einer Masse Gesichtsloser unterstützt. Es mag sein, dass, wer aus dem Süden in Richtung USA flieht, Teil einer viele tausend Menschen grossen Gruppe ist. Doch vor allem sind es Menschen, die zur “Karawane” gehören; auf der Flucht vor unhaltbaren Zuständen in ihren Herkunftsländern.

Von Jugendbanden zerrissen und in Gewalt versunken

Der Alltag in den Herkunftsländern der Flüchtenden ist von einer Gewalt geprägt, die man sonst nur von Kriegsländern wie Syrien kennt. Doch in Guatemala, El Salvador und Honduras herrscht kein Krieg im eigentlichen Sinne. Stattdessen werden die Länder von Jugendgangs, sogenannten Maras, und Drogenbanden terrorisiert, die für die bürgerkriegsähnlichen Zustände verantwortlich sind.

Zu den unrühmlichen “Geschäften” der Maras gehören unter anderem Auftragsmord, Vergewaltigung und Schutzgelderpressung. Wer sich weigert, den Forderungen der Maras Folge zu leisten, muss um sein Leben fürchten. Dazu kommt, dass sich die einzelnen Gangs in einem erbitterten Bandenkrieg gegenseitig bekämpfen. Die Regierungen und Sicherheitsapparate der Länder können die Sicherheit der Zivilbevölkerung nicht garantieren oder sind selbst in die Machenschaften der Maras involviert. Für die Menschen in diesen drei Ländern bedeutet dies, dass sie ein Leben in ständiger Angst führen müssen. Die Jugendbanden zwangsrekrutieren oft schon Kinder, die dann im Jugendalter selbst fester Teil des Systems von Gewalt und Erpressung werden. Für die Jungen im Triángulo Norte gibt es deshalb eigentlich nur zwei Möglichkeiten: die Mitgliedschaft in einer Mara - verbunden mit dem sehr hohen Risiko, jung im Bandenkrieg zu sterben - oder die Flucht.

Die Gewaltspirale in Mittelamerika wird durch eine extreme Fixierung auf altertümliche Geschlechterrollen zusätzlich verstärkt. Die herrschende Vorstellung der Rollen von Männern* und Frauen* stellt insbesondere für Frauen* und nicht-binäre sowie trans Menschen eine erhebliche Gefahr dar. Das zentralamerikanische Rollenbild sieht für Männer* die Position des dominanten Machos vor; von Frauen* wird erwartet, dass sie sich jenem Macho unterwerfen und gehorchen. Für trans und nicht-binäre Personen sieht dieses Modell keinen Platz vor, dementsprechend gefährlich leben sie. Für Frauen* ist die Konsequenz dieses als Machismo bekannten Phänomens, dass Gewalt gegen sie zur tragischen Tagesordnung gehört. Nirgendwo auf der Welt werden mehr Frauen* aufgrund ihres Geschlechts ermordet als in El Salvador, Honduras und Guatemala.

Verkauft, verschleppt, verschwunden

Flucht ist für viele Menschen in den Ländern des Triángulo Norte der einzige Weg, um der Gewalt zu entkommen. Doch wer denkt, dass die Flüchtenden in Sicherheit seien, sobald sie die mexikanische Südgrenze überquert haben, irrt gewaltig.

Teile des Landes sind von ähnlicher Bandenkriminalität geprägt wie die Herkunftsländer der Flüchtenden; gemäss der Internationalen Organisation für Migration IOM gehört die Fluchtroute durch Mexiko zu den gefährlichsten der Welt. Wer sich auf die Reise nach Norden begibt, setzt sein Leben aufs Spiel: Immer wieder kommt es vor, dass Migrant*innen unterwegs ermordet, entführt oder vergewaltigt werden. Genaue Zahlen für das Ausmass der Gewalt auf der Fluchtroute gibt es nicht, doch die Schätzungen sind alarmierend. So sind seit 2006 gemäss Medico International mindestens 100’000 Flüchtende auf ihrer Reise durch Mexiko spurlos verschwunden. Was diesen Menschen zugestossen ist und ob sie möglicherweise noch leben, darüber kann nur spekuliert werden - zudem ist diese Zahl bloss eine Mindestangabe: Die tatsächliche Zahl der Verschollenen dürfte um einiges höher sein. Die IOM schreibt in ihrem 2014 erschienen Bericht über auf der Flucht verlorene Leben lediglich, dass die Zahl der toten Flüchtenden in Mexiko nicht bekannt sei, nennt Mexiko aber einen “Friedhof für Zentralamerikaner*innen”.

Was Flüchtende auf ihrem Weg durch Mexiko erleben, ist für Mitteleuropäer*innen nur schwer vorstellbar. Und doch begeben sich Jahr für Jahr Tausende Menschen auf die gefährliche Reise gen Norden, in der Hoffnung auf ein besseres Leben ohne Angst. Man muss kein*e Hellseher*in sein, um zu erahnen, wie die Zustände in ihren Herkunftsländern sein müssen, damit Menschen sich freiwillig auf Reisen wie diese begeben. Und dennoch bleiben die Vereinigten Staaten für den Grossteil der Reisenden eine Sehnsucht, die sie nie erreichen werden. Denn die US-Regierung unter Trump hat in den vergangenen Jahren alles daran gesetzt, ihr System von Abschottung gegenüber Migrant*innen aus dem Süden zu perfektionieren.

USA: Menschenfeindliche Politik mit System

Ein Aufschrei ging um die Welt, als 2018 bekannt wurde, dass die Regierung Trump im Zuge ihrer Null-Toleranz-Politik gegenüber illegal eingereisten Migrant*innen aus dem Süden Familien trennen liess. Tausende Familien wurden auseinandergerissen, die Eltern landeten im Gefängnis und ihre Kinder in Betreuungsanstalten. Nach heftigem Druck auch aus dem eigenen Lager beendete Trump die Politik der Familientrennung - und steckt seither die Eltern mitsamt ihren Kindern ins Gefängnis.

Zu argumentieren, dass die Migrant*innen die Einreise einfach auf dem legalen Weg versuchen sollten, wenn sie mit Würde behandelt werden wollten, ist nicht nur boshaft, sondern auch kurzsichtig und naiv. Denn die Regierung Trump hat in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass es für den grössten Teil der Flüchtenden aus dem Triángulo Norte keinen “legalen” Weg in die USA gibt. So wurden beispielsweise häusliche Gewalt und Verfolgung von Banden von der Liste der Gründe, weshalb ein Mensch in den USA Asyl suchen darf, gestrichen. Zudem hat Trump Abkommen mit Guatemala, Honduras und El Salvador geschlossen: Sie besagen, dass Geflüchtete in diese Länder zurückgeschickt werden können, sollten sie auf ihrer Flucht eines dieser Länder durchquert, dort aber kein Asyl beantragt haben. Konkret heisst das, dass Menschen, die aus Honduras und El Salvador flüchten, in Guatemala Asyl beantragen müssen. Denn wer über den Landweg aus Honduras oder El Salvador nach Mexiko gelangen möchte, muss gezwungenermassen Guatemala durchqueren. Dieses Abkommen zeigt auf beeindruckende Weise den Zynismus der Trump-Regierung: Wer vor Verfolgung und Lebensgefahr in Honduras oder El Salvador flüchtet, wird gezwungen, in Guatemala Asyl zu beantragen - wo die Person ebenso um ihr Leben fürchten muss.

Der Fakt, dass die Vereinigten Staaten den meisten Menschen aus dem Triángulo Norte verunmöglichen, auf legalem Weg in die USA zu gelangen, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich in den Herkunftsländern immer noch Tausende gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Ein neues Leben in den Nachbarländern inklusive Mexiko zu beginnen, stellt jedoch für die Meisten keine Option dar, da ihre Integrität auch dort in Gefahr ist - dementsprechend versuchen immer noch zahlreiche Menschen, nach Norden zu gelangen.

Um die “illegal” Flüchtenden an der Einreise in die USA zu hindern, hat die Regierung Trump indes fast alle Register gezogen: Unter Androhung von massiven wirtschaftlichen Sanktionen hat Mexiko ein Abkommen mit der USA unterzeichnet, welches Mexiko verpflichtet, stärker gegen Flüchtende vorzugehen. Zudem werden Flüchtende, die trotz aller Widrigkeiten in den USA Asyl beantragen möchten, gezwungen, während des Verfahrens in Mexiko zu bleiben - in den zum Teil extrem gefährlichen Städten an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze, in Unterkünften, die kaum menschenwürdig sind.

Doch US-amerikanische Taktiken, sich Flüchtende vom Hals zu halten, gibt es länger, als Trump im Amt ist. Was den harmlosen Namen Programa Frontera Sur trägt, zu deutsch “Programm Südgrenze”, ist ein zentrales Element der US-amerikanischen Strategie gegen Migration aus dem Süden. Das 2014 von Mexiko verabschiedete Programm sieht Grenzkontrollen innerhalb Mexikos – weit von der Grenze der USA entfernt – vor, sowie strengere Einreisekontrollen an der mexikanischen Südgrenze. Obwohl es sich um ein mexikanisches Projekt handelt, dient es vornehmlich den Interessen der USA, da es faktisch dazu führt, dass weniger Menschen die US-Grenze erreichen. Die USA haben somit in den letzten Jahren ihre Grenze nach Süden verschoben, und ganz Mexiko zu einem Grenzgebiet gemacht. Für die Flüchtenden bedeutet das, dass sie sich immerzu neue, noch gefährlichere Routen suchen müssen, um nach Norden zu gelangen; Routen, auf denen sie der Willkür von Banden und Schlepper*innen noch schutzloser ausgesetzt sind, um irgendwie den Kontrollen zu entgehen.

Die Festung Europa ist keinen Deut besser

Die Strategie, südliche Länder dazu zu bringen, strengere Grenzkontrollen durchzuführen und somit Verantwortung auf wirtschaftlich schlechtergestellte Länder abzuwälzen, wird keineswegs nur von den Vereinigten Staaten benutzt. Auch Europa ist sehr geschickt darin, seine Grenzen in den Globalen Süden zu verschieben. So wurde beispielsweise 2016 auf Druck der EU hin in Niger ein Gesetz erlassen, welches Personen, die Flüchtenden auf der Reise durch den Niger helfen, wegen Menschenschmuggels bis zu dreissig Jahre ins Gefängnis bringen kann. Damit versucht Europa nichts Geringeres, als Menschen, die nach Europa wollen, schon auf dem afrikanischen Kontinent aufzuhalten. Ähnlich wie in Mexiko führt diese Kriminalisierung von Migration allerdings nicht dazu, dass keine Menschen mehr flüchten. Stattdessen werden Flüchtende auf immer gefährlichere Routen gezwungen, fernab jeglicher Zivilisation.

Doch nicht nur im Globalen Süden versucht Europa, Flüchtenden möglichst viele Steine in den Weg zu legen. So wurde beispielsweise im Jahr 2016 ein Abkommen mit der Türkei geschlossen, welches das Land am Bosporus dazu verpflichtete, seine Grenzen nach Europa für Flüchtende zu schliessen. Das Resultat: Die weitaus gefährlichere Überfahrt von der Küste Nordafrikas nach Italien wurde zur Hauptfluchtroute nach Europa. Organisationen, die versuchen, den Booten der Flüchtenden in Seenot zu helfen, werden kriminalisiert und an ihrer Arbeit gehindert. Dieser Politik der Verhinderung von Seenotrettung fielen bis zum heutigen Tag mindestens 40’000 Menschen zum Opfer (mehr zu dieser Thematik ist im Kampagnentext über Mittelmeerflucht zu finden).

Die Flüchtenden, die es trotz dem türkischen Grenzregime nach Kontinentaleuropa geschafft haben, können an jeder Grenze, die sie auf ihrer Flucht nach Mitteleuropa passieren, gewaltsam an der Durchreise gehindert werden. Um den schrecklichen Situationen in den Flüchtlingslagern auf der Balkanroute, den illegalen Verhaftungen und körperlicher Misshandlung seitens der Grenzpolizeien zu entgehen, gehen Flüchtende bei ihren Grenzübertritten grosse Risiken ein und lassen sich über Grenzen schleusen. So führte die Europäische Abschottungspolitik in den letzten Jahren direkt dazu, dass schon mehrfach Lastwagen voller erstickter Flüchtender geborgen wurden.

Kriminalisierung tötet

Wer flieht, tut dies nicht freiwillig. Niemand verlässt ohne triftigen Grund Familie, Freund*innen und alles Bekannte, um eine Reise ins Ungewisse zu unternehmen – schon gar nicht, wenn diese Reise derart gefährlich ist wie die Flucht durch Mexiko oder nach Europa. Es wird so lange Menschen geben, die sich für die Flucht entscheiden, wie ihre Fluchtgründe nicht beseitigt sind. Die unmenschlichen Praktiken, die Europa und die USA verwenden, damit möglichst wenige Menschen auf der Flucht ihre Zielländer erreichen, mögen einen abschreckenden Effekt auf einen Teil der Flüchtenden haben. Doch sie werden niemals erreichen, dass Menschen aufhören, vor untragbaren Zuständen zu flüchten. Die Abschrecktaktiken der reichen Staaten des Globalen Nordens führen primär dazu, dass Menschen gezwungen werden, Alternativen zu einigermassen sicheren Routen zu finden. Diese Alternativen bedeuten für die Flüchtenden jedoch oft, dass sie sich durch noch unwegsameres Terrain schlagen und noch widerlicheren Umständen trotzen müssen - und dass sie dem organisierten Verbrechen in den Transitländern noch schutzloser ausgeliefert sind. Menschen sterben, weil reiche Länder im Globalen Norden alles daran setzen, dass so wenig Leute wie möglich ihre Grenzen erreichen. Es kann nicht sein, dass Milliarden investiert werden, um Menschen an der Flucht zu hindern, anstatt die Fluchtursachen - an denen die westliche Welt Mitschuld hat und für die sie historische Verantwortung trägt - effektiv zu bekämpfen, damit die Menschen in ihren Herkunftsländern ein Leben in Würde und ohne Angst führen können. Wir fordern ein Umdenken von der westlichen Welt inklusive der Schweiz: Es muss endlich anerkannt werden, dass die Kriminalisierung von Migration kein nachhaltiger, sondern tödlicher Weg zur Reduktion der Zahl von Menschen auf der Flucht ist. Es kann nicht stillschweigend akzeptiert werden, dass Jahr für Jahr Zehntausende auf der Flucht ihr Leben lassen. Dass die Transitländer zu Massengräbern für Menschen auf der Suche nach einem sicheren Leben werden.

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